Der innere Kritiker

Heldenreise

Ein Beitrag, den ich schon seit »Der graue Schleier«¹ schreiben will und mit dem ich mir unglaublich schwer tue. Kennst Du das Problem, wenn Du unbedingt über etwas schreiben willst, aber die Worte purzeln Dir nicht wie sonst von den Lippen/aus den Fingern? Es ist zum Haare raufen.

Bei dem Beitrag von damals sprach ich nur darüber, wie sich die Depression für mich anfühlt. Und jetzt möchte ich darüber schreiben, wie es dazu kam. Wobei man auch das nicht sicher sagen kann, da es sich aus so vielen Facetten zusammensetzt. Wie heißt es so schön? »Steter Tropfen höhlt den Stein.« So ungefähr kann man sich das vorstellen. Irgendwie spielt einfach alles zusammen, aber ein ganz großer Punkt ist bei mir der innere Kritiker.

Was ist der innere Kritiker?

Der Kritiker, dem wir schon mehr als einmal begegnet sind, kann ausgesprochen lästig sein. […] Man kann es ihm nie recht machen, er ist nie zufrieden, er ist immer schon vor einem am Ziel und weiß, wie man es hätte besser machen müssen. Und wenn er dann doch mal stumm bleibt, was selten genug vorkommt, dann ist man völlig verunsichert und traut dem Frieden nicht.

Die Beschreibungen ließen sich beinahe endlos fortsetzen. Im Grunde aber gleichen sich die Züge, die der innere Kritiker trägt: Er benimmt sich wie ein Besserwisser, Rechthaber oder Antreiber, manchmal auch wie ein Richter oder strenger Lehrer, oft wie ein Nörgler und ewig Unzufriedener. Er ist hart und unerbittlich, wird nie müde, auf etwas aufmerksam zu machen, was nicht in Ordnung ist oder besser sein könnte. Kein Bereich ist vor ihm sicher, ob es um Leistung geht oder um Ordnung, um Essen, Sport, Aussehen oder Pünktlichkeit. Er hat immer das letzte Wort, ist nur in seltenen Fällen zufrieden zu stellen, und auch dann nur kurz. Der Kritiker führt ein strenges Regime.

Potreck-Rose, Friederike: Von der Freude, den Selbstwert zu stärken. Klett-Cotta, 2015, S. 48f

Vermutlich fragst du dich nun, warum das etwas schlechtes ist.

Denn eigentlich kann es doch nur von Vorteil sein, einen inneren Kritiker zu haben, der einen antreibt. Und ja, da gebe ich Dir absolut recht. Doch ist die Frage, wie viel der innere Kritiker einnimmt. Ist er wirklich hilfreich und man lernt durch ihn aus seinen Fehlern oder wird zu größerer Leistung angespornt, ist das alles in meinen Augen kein Problem. Doch wenn der innere Kritiker wie bei mir ist, dann wird er Dich nicht anspornen, sondern regelrecht fertig machen. Wie hat meine Therapeutin das so schön gesagt? »Ihren inneren Kritiker kann man sich wie einen Lehrer mit dem Rohrstock oder einer Peitsche vorstellen, der Sie für die kleinsten Fehler maßregelt.«

Um das etwas verständlicher zu machen, würde ich Dir gerne genauer erläutern, wie das bei mir so aussieht. Ich nehme hier noch einmal das eben zitierte Buch zur Hand und hangle mich an den ›Strategien des Kritikers‹² entlang.

Unfaire Vergleiche anstellen

Person xy kriegt ihren Haushalt auf die Reihe, obwohl sie einen Vollzeitjob hat, vielleicht noch ein Kind und bei der man trotzdem einfach vorbei kommen kann und es ordentlich und sauber ist. Bei solchen Besuchen meldet sich der innere Kritiker und wettert los: »Schau Dir das ganz genau an, so könnte es bei Dir aussehen, wenn Du endlich mal den Arsch hochkriegen würdest. Aber Du bist einfach zu unorganisiert und bekommst einfach nichts auf die Reihe. Und dabei hast DU nur einen Teilzeitjob und bist kinderlos!«

Mit zweierlei Maß messen

Eine neue Kollegin hat eine große Differenz in der Kasse und ich sage zu ihr, dass sie sich keinen Kopf machen soll, aber wenn ich eine habe, schimpft der Herr Kritiker gleich mal los: »Zu dumm zum Geld zählen oder? Kannst nicht mal ordentlich raus geben. Irgendjemand hat Dich beschissen oder noch schlimmer DU ihn. Auf Dich ist echt kein Verlass. Dass man Dich überhaupt an der Kasse sitzen lässt.« Aber selbst bei kleineren „Vergehen“ wie zum Beispiel Krankheit bin ich immer die Erste die zu anderen sagt, dass sie sich das nicht so zu Herzen nehmen sollen, jeder kann mal krank sein. Aber bei mir selbst läuft das eher so: »Ganz große Klasse. Jetzt hast Du Dich auch noch krankgemeldet. Die Kollegen verlassen sich ja auch nur auf Dich. Wenn man sich auf Dich verlässt, ist man verlassen.« Und das ist eines der schlimmsten Dinge, die mein Kritiker zu mir sagen könnte, denn ich hasse nichts mehr, als andere Menschen zu enttäuschen. Ganz gleich ob Freunde, Familie oder einfach nur Arbeitskollegen. Für mich ist das ganz schlimm!

Negative Gedanken anderer lesen

Das kann man ziemlich gut mit dem oberen Thema vereinbaren. Es ist mir äußerst wichtig, was die Menschen von mir denken. Ich möchte keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Ich möchte gemocht werden. Ebenfalls ein tief sitzendes Thema. Der Kritiker kennt die Sätze, die mich zielstrebig fertigmachen: »Und was glaubst du, was deine Kollegen jetzt von dir denken? Genau, dass Du blau machst. Wer wird auch direkt vor/nach dem Urlaub krank? Erbärmlich. Sie haben schon recht damit, wenn sie sich jetzt über Dich das Maul zerreißen.« Aber noch schlimmer ist es, wenn es bei Freunden passiert. Wenn es zum Beispiel um Themen geht, bei denen ich einfach eine andere Meinung oder Einstellung habe. »DAS würde ich ihnen jetzt nicht sagen. Was sollen sie denn von Dir denken? Du bist unreif und hast kein fundiertes Wissen zu diesem Thema. Nur eine Meinung, die Du Dir aus unerfindlichen Gründen zusammen geschustert hast oder eine äußerst grenzwertige Geschmacksverirrung. Halt besser die Klappe, sie halten Dich sowieso schon für dumm.« Also bin ich meistens eher still und sage nicht, was ich denke. Ich weiß nicht, was mehr Gift für die Seele ist: die Kommentare des inneren Kritikers oder das Stillschweigen.

Perfektionistische Ansprüche stellen

Ich habe ein Liste, die ich an einem Tag abarbeiten will, habe viele Punkte davon geschafft und vielleicht sogar die wichtigsten. Für einen kurzen Moment bin ich richtig stolz, was ich alles an diesem Tag vollbracht habe und dann meldet er sich, der innere Kritiker: »Ja, aber schau Dir an was Du alles NICHT geschafft hast. Das sind ja nicht nur die drei Dinge, die noch auf Deiner Liste stehen, sondern die Küche muss ja schließlich auch noch gemacht werden und Du hättest heute weit mehr als zwei Waschmaschinen laufen lassen können und staubsaugen wäre eigentlich auch keine schlechte Idee gewesen oder? Du bist einfach zu blöd, Deinen Haushalt zu führen. Andere wuppen das mit Links. Schau Dir doch mal an wie perfekt die Wohnungen von anderen aussehen und die gehen nebenher sogar noch Vollzeit arbeiten UND haben drei Kinder.« Hier stellt der innere Kritiker oft und gerne unfaire Vergleiche an, wie Du sicherlich schon herausgelesen hast. Hauptsächlich geht es aber darum, dass er nie zufrieden ist, selbst wenn ich die Liste komplett abgearbeitet hätte. Solange noch irgendetwas zu tun ist, würde er mir das vorwerfen. Und wenn wir mal ganz ehrlich sind: Es gibt immer was zu tun oder? Dies ist also eine der unermüdlichsten Strategien des inneren Kritikers.

Positives externalisieren, Negatives internalisieren

Wenn man etwas gut gemacht hat, dann sieht man nicht seine eigene Arbeit dahinter, sondern wiegelt es als „Glück gehabt“ ab. Ist aber irgendetwas schief gelaufen, für das man unter Umständen gar nichts kann, dann sucht man den Fehler bei sich selbst. Für den inneren Kritiker ist das ein gefundenes Fressen. Er negativiert alles. Ich kann einfach kein Lob annehmen, stelle mein Licht dann auch unter den Scheffel und wenn ich auch nur das kleinste Fünkchen Kritik wahrnehme, ist der inneren Kritiker sofort zur Stelle. Er weißt mich auf jeden skeptischen Blick hin, auf jede hochgezogene Augenbraue, auf jedes Wort, dass vielleicht Kritik bedeuten könnte und führt mir immer wieder vor Augen was ich hätte besser machen können. Selbst wenn ich mir mal gut zurede und mir sage, dass ich stolz darauf sein kann, was ich heute alles geschafft habe, taucht alsbald der innere Kritiker auf und lässt den Perfektionisten (s. o.) raushängen. Es ist manchmal auch ein wenig wie Pingpong, von der einen Strategie zur nächsten.

Alles-oder-Nichts-Denken

Selbst wenn ich mir kleine Ziele stecke, schrecke ich vor der schieren Menge zurück. Nehmen wir als Beispiel das Ausmisten: Ich nehme mir vor, nur einen bestimmten Schrank auszumisten, sehe aber, dass in dem ganzen Zimmer noch so unglaublich viel zu tun ist, dass es mich schier überfordert. Ich beiße mich zwar dennoch oft genug durch, bin aber dann frustriert, weil die viele Arbeit nicht sichtbar ist oder mir zumindest nicht sichtbar erscheint. Auch hier kennt der innere Kritiker natürlich die wunden Punkte und streut ordentlich Salz in die Wunde: »Hättest Du es nicht so lange aufgeschoben, wäre es nicht so viel Arbeit. Du bist schon EWIG damit beschäftigt und man kann immer noch gar keinen Fortschritt erkennen. Du hast es einfach nicht drauf, lass es doch einfach gleich bleiben. Dein Mann wird enttäuscht sein, wenn Du heute wieder nichts zustande gebracht hast.«

Das sind sechs der acht Strategien über die Friederike Potreck-Rose spricht. Die anderen beiden, ›Übertriebene Verantwortung fordern‹ und ›Generalisieren‹, treffen zwar auch auf meinen inneren Kritiker zu, sind aber nicht so laut und ausgeprägt wie die anderen sechs. Ich finde es erschreckend, dass ich mich in so vielen Strategien wieder finde, aber gleichzeitig hilft es mir, denn ich weiß nun, woran ich mit meiner inneren Befürworterin arbeiten muss.

Innere Befürworterin?

Sie ist das Pendant meines inneren Kritikers und soll die positiven Dinge mehr hervorheben und einem in schwierigen Zeiten gut zureden. Als ich damals mit meiner Therapeutin darüber sprach, sollte ich mir meinen inneren Befürworter bildlich vorstellen. Doch habe ich es einfach nicht hinbekommen. Ich konnte kein Bild konstruieren und war ob meines Unvermögens total niedergeschlagen und ja, auch irgendwie überfordert. Meine Therapeutin fand dies gar nicht so verwunderlich, weil mein innerer Kritiker so viel Raum einnimmt und den inneren Befürworter stark unterdrückt hat. Manchmal komme ich mir total blöd vor, weil es klingt, als würde ich über/mit zwei reale/n Menschen reden, die aber nicht real existieren.

Meine Therapeutin empfahl mir, mir Gedanken dazu zu machen, mich aber nicht unter Druck zu setzen. Es einfach fließen zu lassen. Bis zur nächsten Sitzung hatte ich dann auch eine Vorstellung meines inneren Befürworters. Und es war eine sie, eine alte Omi mit Dutt und Strickzeug, deren Art ein bisschen an alle alten Damen aus den Disneyfilmen erinnert, wie z. B. Tala (Vaiana), Großmutter Fa (Mulan), Großmutter Weide (Pocahontas) oder Mama Odie (Küss den Frosch). Jetzt muss ich nur noch lernen, öfter mit ihr in Kontakt zu treten, ihr eine Stimme zu geben und damit den inneren Kritiker mehr in die Schranken zu weisen.


¹ Archivbeitrag meines alten Blogs
² Potreck-Rose, Friederike: Von der Freude, den Selbstwert zu stärken. Klett-Cotta, 2015, S. 54f
Bildquelle: Kat Smith
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12 thoughts on “Der innere Kritiker”

  1. liebe barbara, ich kenne diese sätze so unglaublich gut, denn ich habe sie auch unendlich lange gehört. aber weißt du was interessant ist? irgendwann ist die quelle dieser stimme versiegt. ich weiß nicht einmal mehr, wann das war, aber ich habe sie seit langem schon nicht mehr gehört und, oh, es lebt sich wirklich besser. darum spreche ich aus eigener erfahrung wenn ich dir sage, dass das irgendwann aufhören kann und dass du das schaffen kannst – und wirst, weil du soviel dafür tust und nicht nur wartest, dass es von selbst besser wird.
    am ende unseres lebens zählt nicht, wie sauber unsere wohnung war. das ist mir am samstag wieder so stark bewusst geworden. es zählen auch nicht die kilos auf der waage und freunde, vor denen du nicht ehrlich sein darfst, sind keine wirklich echten freunde. die echte, die vertragen auch eine andere meinung. obwohl ich dir zustimme, dass man vorsichtig sein sollte bei heiklen themen und grade speziell in dem bereich überlege ich mir auch oft sehr gut, ob ich etwas sage oder nicht.

    1. Oh ich hoffe so sehr, dass sie bei mir auch irgendwann versiegt. Oder zumindest nicht mehr so präsent ist wie jetzt. Ja ich arbeite daran, aber ich habe immer das Gefühl, dass ich NOCH mehr tun könnte, dass das bald besser wird. Skurril oder? Denn damit schneidet sich der innere Kritiker ja quasi selbst ins Fleisch. Früher hat es mich angespornt, wenn jemand gesagt hat „Das kannst du nicht.“ und heute glaube ich das sogar. -.-“

      Tatsächlich habe ich bei einem Freundespaar gemerkt, dass es nicht so wild ist, wenn ich meine eigene Meinung vertrete. Andere wenden einem den Rücken zu, das tut weh, ist aber dann nun mal so und war vielleicht auch nie das, was ich dachte, dass es ist. Was Wohnung und Gewicht angeht, bin ich leider gedanklich noch überhaupt nicht an diesem Punkt. Das brennt so unangenehm auf meiner Seele… dieses Feuer ist nur schwerlich zu löschen. :/

      Vielen Dank für deine lieben Worte. ♥

      1. das ist einfach ein wirklich langer und wirklich anstrengender prozess und vermutlich ist man auch nie GANZ Durch damit, weil das so in einem drin ist, dass das halt da und dort auch wieder aufpoppt. ABER auch wenn du dir jetzt nicht vorstellen kannst, dass das jemals leichter wird, irgendwann wirst du aufwachen und bemerken, dass es leichter geworden ist.
        es ist auch sicherlich normal, dass du dieses gefühl hast. aber da kannst du dir selbst einfach kognitiv dagegen arbeiten und sagen: ich tue, was ich kann, in dem tempo, in dem ich es kann. das wichtigste ist, dass der wettbewerb mit dir selbst aufhört.

        um dieses feuer zu verbessern ist es einfach super wichtig, dass du einen besseren zugang zu deinem selbstwert bekommst. ich hab erst in den letzten jahren gemerkt, wieviel einem da von außen permanent eingetrichtert wird, dass man nicht ok ist wie man ist. es hat ewig gedauert, bis ich wirklich wahrgenommen habe, dass das einfach eine wirtschaftliche maschinerie ist, die damit UNENDLICH viel geld macht, dass frauen einfach per se mit sich unglücklich sind. darum muss man lernen das aufzutrennen. was ist MEIN gefühl, womit geht es MIR nicht gut und was ist das, was von außen kommt?
        ich finde es großartig, dass es im moment so eine wahnsinnig aktive plus size fashion bewegung gibt, denn ich hab das erste mal seit ich denken kann das gefühl, dass da eine gruppe von frauen entsteht, die sich dagegen wehren UND dass da auch langsam eine gewisse akzeptanz mitkommt. vielleicht wäre das auch was für dich, ein bisschen accounts zu folgen, die einen anderen zugang dazu haben? ich lese zb gern bei https://marshmallow-maedchen.de/

        1. Allein wenn ich heute auf die Zeit vor einem Jahr zurück denke, hat sich schon einiges getan. Ich muss mir das einfach immer wieder vor Augen führen, sonst vergesse ich es. Außerdem versuche ich gerade einen Satz meines Zumba-Instructors zu verinnerlichen „Wenn du nicht mit kommst, dann bleib zumindest in Bewegung.“ Das passt auf so viele Lebenslagen und hilft gerade ungemein.

          Oh! Das ist wirklich ein guter Ansatz. Darüber möchte ich mir mal mehr Gedanken machen, nein, darüber SOLLTE ich mir mehr Gedanken machen!
          Hm… ja das könnte was für mich sein, ich werde da mal reinstöbern. Danke dir! ?

          Vielen lieben Dank für deine lieben Worte. ?

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